Ideelle Vermächtnisse und Migrationspolitik
In ihrem Buch entwickelt Christina eine Theorie der ideellen Politikstabilisierung. Die Theorie erklärt wie sich lange vergangene historische Ereignisse über einen langen Zeitraum hinweg auf politische Entscheidungen auswirken können, auch wenn sich die wirtschaftliche und/oder institutionelle Anreizstruktur gänzlich verändert. Sowohl im öffentlichen als auch im akademischen Diskurs über Migrationspolitik wird häufig auf die Bedeutung historischer Vermächtnisse verwiesen, die Mechanismen der Übertragung wurden aber bislang nicht zureichend geklärt.
Wie können längst vergangene Ereignisse politische Entscheidungen der Gegenwart beeinflussen? Christina argumentiert, dass das fehlende Bindeglied zwischen vergangenen Ereignissen und gegenwärtigen Entscheidungen ideeller Natur sein kann: Zunächst bringt eine historische Interessenkonstellation Akteure dazu, politische Ideen zu vertreten, die der historischen Situation entsprechen. Im Laufe der Zeit können sich diese Ideen jedoch von der Interessenskonstellation lösen und zu gesellschaftlichen Dispositionen (d. h. zu geteilten Werten und Identitäten) werden. Dies passiert genau dann wenn politische Eliten aktiv einen diskursiven Konsens über eine bestimmte politische Idee herstellen und diese Idee rhetorisch mit den gemeinsamen Werten und der Vorstellung kollektiver Identität verknüpfen, die die politische Gemeinschaft auszeichnen. Sind der diskursive Konsens und die Verbindung zu gemeinsamen Werten und kollektiver Identität erst einmal hergestellt, können Ideen (nun als gesellschaftliche Dispositionen) Politikgestaltung langfristig beeinflussen, und zwar auch gegen stark gegenläufige rationale Anreize.
Der empirische Teil des Buches analysiert eine solche ideelle Stabilisierung in Katalonien (Spanien), das einen integrativen Ansatz gegenüber Einwanderung verfolgt, und in Südtirol (Italien), wo Einwanderung als Bedrohung dargestellt wird. Der Vergleich zeigt, dass diese Unterschiede durch die politische Ökonomie der historischen Industrialisierung und der Binnenmigration erklärt werden können. In Katalonien war das katalanische Bürgertum selber die treibende Kraft der Industrialisierung und die Region nahm ungelernte Arbeiter aus dem übrigen Spanien auf, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln. Südtiroler hingegen waren nicht selber Autoren der regionalen Industrialisierung und empfanden die Ankunft italienischer Facharbeiter als ‚Kolonisierung‘. Im Laufe der Zeit änderten sich die sozioökonomischen Bedingungen, und Binnenmigration wurde durch internationale Migration ersetzt. Da sich die historischen Erfahrungen jedoch zu Dispositionen verfestigt hatten, verstanden Eliten in Politik und Verwaltung Einwanderung weiterhin aus der mittlerweile überholten Perspektive der wirtschaftlichen Möglichkeiten in Katalonien und der ethnischen Konkurrenz in Südtirol.
Das Buch basiert auf Christinas Feldforschung in beiden Regionen, wo sie Interviews führte, Archive besuchte und dort qualitative und quantitative Daten sammelte. Das Buch leistet einen Beitrag zur Debatte über die Erklärungskraft von Ideen in der vergleichenden Politikwissenschaft und Policy-Forschung und trägt zur Literatur über Migrations- und Integrationspolitik bei. Das Buch wurde im Mai 2022 bei Oxford University Press veröffentlicht.
In einem Blogpost mit dem Titel „Why migration politics in Germany is stuck in the past“ in „The Loop“ wendet Christina die Theorie der ideellen Vermächtnisse an um zu erklären, warum sich die deutsche Politik und Verwaltung so schwer tut, auf den wachsenden Bedarf des Landes nach Einwanderung mit politischen und administrativen Reformen reagieren.